"Hoffentlich steigt er bald aus", denkst du dir, als du alleine mit der überfüllten Bahn nach Hause fährst und der alte Mann deine Tasche einfach so beiseite stellt, um sich neben dich zu setzen. Du schaust ihn angewidert an und rutschst vorsichtshalber ein Stück weg. Er riecht nach Zigaretten und Pfefferminzkaugummi, außerdem gibt er ständig ein Geräusch von sich, welches ein wenig wie ein Schniefen klingt. Seine Hände zittern die ganze Zeit, sicher nimmt er Drogen. Nicht einmal um den Platz gebeten hat er, den auf Arbeit hat er schließlich auch nicht mehr.
Aber, dass ihm heute völlig unerwartet gekündigt wurde und er jetzt nicht weiß, wie er seiner Mutter die Medikamente bezahlen soll, kannst du ja nicht wissen.
"Was für ein Freak", denkst du dir, als die blasse Frau mit einer Narbe über das ganze Gesicht und dem langen, schwarzen Mantel an dir vorbeiläuft und du die Musik aus ihren Kopfhörern mithören kannst, so laut ist sie. Sie drängelt sich an den Leuten vorbei, den Blick starr zum Boden gerichtet. Du schüttelst demonstrativ den Kopf, als sie kurz aufschaut. Nicht einmal auf das kleine Kind, das sie beiseite schiebt, gibt sie Acht.
Doch Kinder, kann sie einfach nicht mehr sehen, seit ihres bei einem Unfall ums Leben kam. Aber, dass sie dabei ihr Bein verloren hat, mit dem Mantel nur die Prothese verstecken will und die laute Musik nur hört, damit sie mit dem Bass noch etwas hat, was sie außer den Blicken der Menschen spürt, kannst du ja nicht wissen.
"Hau bloß ab", denkst du dir, als der Junge, auf den du sauer bis, weil du ihn zwar liebst, er aber auf der Party vorgestern deine beste Freundin geküsst hat, auf dich zukommt und den Mund aufmacht, um dir etwas zu sagen. Für Entschuldigungen ist es jetzt zu spät, findest du, drehst dich weg und beschleunigst deinen Schritt, damit er dich nicht einholt. Nicht einmal erklären konnte er sich dir unter vier Augen, die du letztens nach ein paar Gläsern Wein ja auch nur für seinen Kumeepl hattest.
Aber, dass er deine Freundin nur wegen einer Wette geküsst hat und dich den ganzen Abend herumflirten gesehen hat, was ihm noch ziemlich weh getan hat, als er dich nach Hause gefahren hat, weil du so betrunken warst und du deinen Schlüssel in seinem Auto vergessen hast, den er dir jetzt eigentlich geben wollte, kannst du ja nicht wissen.
"Lass mich in Ruhe", denkst du dir, als dein Vater dir einen genervten Blick zuwirft und dich etwas gereizt angeht, da du wieder einmal vergisst, die Schuhe auszuziehen, bevor du in die Wohnung kommst und den Schulrucksack in die Ecke neben dem Schreibtisch wirsft und anschließend dich auf dein Bett fallen lässt. Nicht einmal einen Guten Tag hast du zu ihm gewünscht.
Den hattest du schließlich auch nicht, dank der Klausur, die ihr heute zurückbekommen habt. Aber, dass du mal wieder eine Fünf in Mathe geschrieben hast, kann er ja nicht wissen.
"Konnte ich ja nicht wissen", denkst du dir, als der Mann dir schließlich davon erzählt und anfängt zu weinen, nachdem er dich gefragt hat, ob er mit dir reden kann.
"Konnte ich ja nicht wissen", denkst du dir, als du später in einer Kunstgalerie einige Bilder der Frau entdeckst, die gerade am Eingang stehen und ihre Geschichte liest, welche darunter geschrieben steht.
"Konnte ich ja nicht wissen", denkst du dir, als dir der Junge alles erzählt, nachdem du deinen Schlüssel ewig gesucht hast und schlielich in deinem Briefkasten einen Zettel gefunden hast, auf dem stand, er wäre dankbar, du würdest ihn anrufen.
"Konnte ich ja nicht wissen", sagt dein Vater, als du ihm nach dem Abendessen die Arbeit auf den Tisch legst und er dich in den Arm nimmt, als du ihm erzählst, wie dich deine Lehrerin vor der ganzen Klasse bloßgestellt hat.
"Tut mir Leid", fügt er hinzu.
Und dann fällt dir auf was du vergessen hast.
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